Norbert Trojahn - Ein Lorbass aus der aus der Werderstraße
Hier erzählt Magda Bils-Trojahn was sie erlebte und fühlte als der 2. Weltkrieg begann. Auszug aus ihrem Buch  “Bei uns zu Hause - Der Krieg“

Baumschulenbesitzer Franz Rathke

Ich wurde siebzehn, als der 2. Weltkrieg ausbrach, er hatte sich langsam angekündigt. Da passierten so seltsame Dinge um uns herum. Die Blätter an den Kirschbäumen waren von wurmähnlichen braunen Linien durchzogen, ungewöhnliche Zeichen am Himmel wollten einige Leute gesehen haben. Das Nordlicht, das nicht nur den Himmel sondern alles um uns herum in tiefes violett tauchte - sogar unser Hund hatte ein lila Fell - machte uns bestürzt und ängstlich. Das bedeutet Krieg, unkte man. Umherfahrende Zigeuner prophezeiten ebenfalls Unglück. Aus dem Radio hörten wir von Gräueltaten, die die Polen an Deutschen verübt haben sollen, Kinder waren schlimmsten Folterungen ausgesetzt. Das war entsetzlich, unglaubhaft und musste aufs schlimmste   verurteilt werden. Daß die Bevölkerung Propagandamärchen aufgesessen war, wurde uns erst später bewusst erzählt.


 Kaum hatte mein Bruder Walter seine Lehrzeit beendet, wurde er zur Wehrmacht einberufen und in einem Spähtrupp eingesetzt. Ende August 1939 - also noch vor Kriegsbeginn – stand er mit seinen Kameraden in Zoppot auf Posten. In den nahegelegenen Wäldern seien polnische Spione – als Pilzsammlerinnen  verkleidet – entdeckt worden.


Um diese Zeit schreckte uns nachts ein eigenartiges, unbekanntes Grollen aus dem Schlaf. Das Ras-seln und Rummeln erschütterte etliche Gegenstände im Haus. Wir schlichen ans Fenster  und er-kannten trotz Dunkelheit riesige, schwarze Ungetüme, die durch die Werderstraße fuhren. Es waren die ersten Panzer und Kettenfahrzeuge, die wir sahen. Sie bewegten sich in Richtung ‚Danziger Niederung’. Dahinter lag Polen.


In dieser Zeit konnten wir in dicken Schlagzeilen lesen: „Das Marine-Schulschiff ‚Schleswig-Holstein’ besucht die Stadt Danzig. Nur wenige Tage später ging das Panzerschiff im Hafen von Danzig- Neufahrwasser vor Anker, zufällig gegenüber der Westerplatte.


Am 1. September 1939 hörten wir früh morgens erregte Stimmen rufen: „Es ist Krieg, Krieg!“ Aus der Ferne ertönten dumpfe Geräusche. Die ersten Schüsse fielen. In der Luft lag ein schwefeliger Geruch. Die ersten Schüsse waren gefallen. Die ‚Schleswig-Holstein’ beschoß mit Kanonen und Gewehrfeuer die polnischen Soldaten, die sich auf der Westerplatte verschanzt hatten. Zwei Tage später unterstützte die Luftwaffe mit ihren Stukas ( Sturzkampfbomber) die Marine. Ich lief damals ins Dorf, um mich zu vergewissern. Auf riesigen Plakaten stand groß und deutlich: Seit 5 Uhr 45 wird zurück geschossen“. Ich muß ein Dummchen gewesen sein, dass ich mich staunend fragte, wie die die Dinger so schnell drucken konnten. In vielen Geschichtsbüchern ist nachzulesen, was dieser Krieg bedeutete, wieviel Leid er den Menschen in aller Welt gebracht hat. Ich kann allerdings nur erzählen, wie es mir und meinen Angehörigen erging.


In den nächsten Tagen nahm ich wahr, was ich nicht glauben wollte. Der Hof der Volkschule in Praust wurde gefegt und geharkt, die Fenster geputzt. In erster Linie waren es Polen oder Leute, die der polnischen Minderheit angehörten, die diese Arbeiten streng bewacht verrichten mussten. Einige fegten und harkten den Hof mit Harken und Besen, die keinen Stiel hatten. Einige Männer kannten wir. Darunter war auch Annchens Vater und dessen Sohn. Die Männer wurden geschlagen und getreten, wenn sie mal für einen Augenblick sich reckten, kurz Luft holen wollten. Es war die reinste Schikane, denn die Männer mussten immer wieder von vorn anfangen, um die vom Wachpersonal hinterlassenen Spuren zu beseitigen. Annchen hat ihren Vater, auch ihren Bruder nie wiedergesehen.


Die Schulzeit war für mich noch nicht vorbei, in der Stadt wimmelte es von Matrosen. Aus ganz Deutschland kamen sie, sprachen andere Dialekte. Das war aufregend. Sonst passierte nichts bei uns, die Front war weit weg. Die Zeitungen berichteten von Siegeszügen des Deutschen Heeres in Polen, die ersten schwarzumrandeten Annoncen traten auf. Wir machten uns Sorgen um Walter, der jetzt irgendwo in Polen an der vordersten Front stand. Als die ersten Lebensmittelkarten eingeführt wurden, erhielten wir in Danzig immer noch etwas mehr Zuteilung als die Bevölkerung im Reich, Kaffee zum Beispiel. Zum Teil waren wir Selbstverbraucher, d.h. wir aßen, was wir selbst anbauten und ernteten. Wir hatten ein Schwein und eine Ziege im Stall, Hühner, Gänse, Enten und auch Kaninchen. Die Gemeinde sandte Prüfer in die Häuser, alles Viehzeug wurde gezählt. Ja, Viehzählung nannte man das. Wir hatte also Schinken, Wurst, Pökelfleisch, Speck und Schmalz. Die vom Vater geliebte Rindfleischsuppe, die Mutter fast jeden Sonntag kochen musste, verschwand (endlich) vom Speiseplan. Wir vom Lande kamen gut durch den Winter.


Jetzt fuhren die schweren Kriegsfahrzeuge auch tagsüber bei uns vorbei in Richtung Polen.  Alle Einwohner waren aufgefordert worden, die Soldaten mit Blumen, Zigaretten und Süßigkeiten zu begrüßen. Das taten wir gern, denn wir wussten wohin der Weg sie führte. Soldaten aller Waffengattungen bevölkerten Danzig. Aus den Radios (Volksempfängern) und öffentlichen Lautsprechern ertönte Marschmusik, immer wieder von Siegesmeldungen unterbrochen. Die Stadt war laut geworden. In Reih’ und Glied’ marschierten die Soldaten endlos durch die Gassen. Vom Straßenrand aus umarmten Frauen und junge Mädchen jubelnd die Sieger. Polen war nach knapp 4 Wochen besiegt. Deutsche Truppen führten Blitzkriege gegen fast alle Länder, die ans Deutsche Reich grenzten. England wurde bombardiert. „Bomben, Bomben auf Engeland“ war fast ein Gassenhauer.


Das alles spielte sich in den Jahren von 1939 bis ins Jahr 1943 ab. Die Zeit war so turbulent, so schnelllebig, dass ich nicht mehr weiß, wann die ersten Bomber über uns hinwegflogen. Dieses Geräusch der  ’Viermotorigen,’ dieses unverkennbare Brummen in der Nacht machte uns Angst. Trotz vorhergehendem Fliegeralarm standen wir auf dem Hof, lauschten nach oben und bekamen Durchfall. Werden sie schmeißen? Wohin fliegen sie? Bange Fragen. Die Flak (Flugabwehrkanone) schoß, wir sahen die Blitze, doch die Amis (oder waren’s die Thommys) flogen sehr hoch. Später hätten uns Granatsplitter beinahe getroffen, sie zischten hörbar um unsere Ohren. Österreichische Soldaten, die uns beschützen wollten, sprangen erschreckt in den Straßengraben. Die ’Feinde’ verschonten Danzig.  


Unten auf der Erde ging das Leben weiter. Wir Jugendliche kannten kein Vergnügen, öffentliches Tanzen war verboten. Einen Manöverball gab’s doch in Praust, die Soldaten sollten aufgemuntert werden. Für wenige Stunden vergessen was hinter ihnen lag, nicht daran denken was auf sie noch zukommen könnte.


Inzwischen waren auch unsere Spielgefährten an der Front. Benno, ein so aufgeweckter, lustiger Bursche, kam aus Russland auf Urlaub. Wir waren so fröhlich. Acht Tage später lebte er nicht mehr. ’Gefallen für Führer, Volk und Vaterland’. Diesen Satz musste jeder akzeptieren, der eine Todesanzeige aufgab. Die Zeitungen waren voll davon, es tat weh, die Namen von denen zu lesen, die wir kannten.


Wir lernten Soldaten kennen, es blieb gar nicht aus, dass junge Mädchen angesprochen wurden. Sie kamen aus ganz Deutschland. Mich faszinierten die verschiedenen Dialekte. Aus manchem netten Beisammensein ergaben sich Brieffreundschaften. Ich schrieb an zwölf Soldaten, die in Russland waren. Man konnte es Betreuung nennen. Zweimal erhielt ich meinen Brief zurück mit dem Vermerk, Gefallen. Niemand wusste, wohin die Reise ging. Ein Schlager, der in der Zeit oft gesungen wurde, war typisch für die Zeit.


Liebling, was wird nun aus uns beiden

darf ich glücklich oder traurig sein

werden sich uns’re  Wege scheiden

oder geh’n wir ins Land der Liebe ein?

Ich muß vor Sehnsucht nach dir leiden

Das ist zwar traurig aber wahr

Liebling, was wird nun aus uns beiden

Wenn’s nach mir ging ein verliebtes Paar.


"Gewiß, es ist eine richtige Schnulze gewesen, der Unterton doch unverkennbar."


Ja, der Krieg verursachte schon Probleme. An meinem Arbeitsplatz, dem Postscheckamt in Danzig, wurde es leiser. Wir scheuten uns, Kolleginnen anzusprechen, die traurig waren oder gar weinten. Wir ahnten den Grund, sicher war der Vater, Bruder oder ein anderer naher Verwandter gefallen oder vermißt. Mitunter wagten einige die Frage:  “Wie soll das noch weitergehen?“


Überall starrten uns riesige Plakate und Spruchbänder an, die die Bevölkerung zur Treue, zum Glauben, zu gerechten Kampf gegen die Feinde aufforderten. Ich habe die Parolen vergessen, nicht aber die gestanzte Schrift: ’Gott mit uns.’


1943 begann die Niederwerfung Deutschlands. Russland – von den Amerikanern ausreichend mit neuen Waffen versorgt – schlug zurück, die Deutsche Wehrmacht verteidigte sich nur noch. Die Siegesmeldungen klangen anders. Es hieß nicht mehr ’erobert’, sondern Stellungen zurückerobert oder gehalten. Die USA war zwar schon 1941 in den Krieg eingetreten, aber erst jetzt wurden die deutschen Industriegebiete von den Alliierten aus der Luft angegriffen, deutsche Großstädte bombardiert. Es waren schlechte Nachrichten. So verlor Hamburg in einer Nacht 43.000 Einwohner, meist Frauen, Kinder und alte Menschen. Das war schon Mord! Ich rechnete es damals so um: Wenn in eine Schule 350 Personen hineinpassen, wie viel besetzte Schulen waren den Angriffen der ’feindlichen Terrorbomber’ (so die Meldungen im Radio) zum Opfer gefallen? Das Ergebnis war erschütternd. Viele ’Ausgebomte’ aus Berlin, Hamburg und anderen Großstädten wurden in unsere Gegend umquartiert. Es gab bei uns auch oft Fliegeralarm, aber immer noch flogen die Flugzeuge über uns hinweg. Eine einzelne britische Maschine sah ich dicht über mir, fast streifte sie die Dächer der Häuser. Wenige Sekunden danach wurde sie abgeschossen. Einige Dorfbewohner radelten zu der Absturzstelle. Der Pilot soll schwer verletzt geborgen worden sein.


Aus dem Radio klangen weiter Durchhalteparolen, die Wehrmacht siegte immer noch. Und als Goebbels in einer seinen  vielen Reden – sie wurden im Funk gesendet und mussten gehört werden – rief: „Wollt’ ihr den totalen Krieg? schrieen Tausende, die sich um ihn versammelt hatten, begeistert „Jaaaaa  -  Heil, heil, heil mein Führer!“ Wir sahen es im Kino in der Wochenschau.


Zum totalen Krieg gehörte auch, dass Mutter in eine Fabrik verpflichtet wurde, um dort Fallschirme zu nähen. Mit Erfolg protestierten wir: “Unserer Mutter wurde das Mutterkreuz in Gold verliehen, diese zugeteilte Arbeit ist doch sicher ein Irrtum?!“ (Es gab dieses Mutterkreuz in Bronze, Silber und Gold. Mütter die mehr als 6 Kinder lebend zur Welt brachten, erhielten die Auszeichnung in Gold.) Unsere Mutter hat diesen Orden nie getragen!


Alles während der sechs Jahre Krieg Erlebtes, Gesehenes, Gehörtes zu Papier zu bringen ist nicht möglich. Vieles mag noch tief vergraben sein.



Magda Bils Trojahn wurde am 15. 09. 1922 in Danzig-Praust geboren

und verstarb am 07.07.2005 in Norderstedt.


Quelle: Norbert Trojahn - ehemals Werderstr. 12a