Erwin Völz - Praust im Mai 1945

Liebe Danziger Freunde,

mit sehr großer Verspätung sende ich nun weitere Schilderungen aus jenen Tagen, in denen uns die Heimat genommen wurde. Sie betreffen ja die Zeit als wir aus unserer Kindheit hinaus gestoßen wurden. Schon früher habe ich mich geäussert, daß Einheiten der Wehrmacht noch einen besseren Stand hatten, weil sie keine direkte Last mit Alten, Kindern und Frauen hatten. Wir waren schutzlos und hatten auch keinen Anspruch auf eine Wassersuppe. Wir waren angewiesen auf unsere eigene Initiative und suchten ständig nach Essbarem und dem was von den Siegern abfiel. Hier und da gab es auch Mitleid und schnell hatten wir es ja heraus, wenn sie uns mit Malinki riefen. Manchesmal wollten sie aber auch wissen wo Matka ist.
Durch die vielen Vergewaltigungsvorkommnisse wußten die Kinder Bescheid und haben ihre versteckten Mütter nicht verraten. - So wurden meine Schwestern und ich einmal, von einem Mongolen, mit einer kleinen Tüte Zucker gelockt. Er zog unverrichteter Dinge wieder ab. Lieber Ted Brandt, gerne wollen wir auch von deinen Erlebnissen hören. - Mein Vater, der als Zivilgefangener, im April 1945 den langen Marsch nach Graudenz mitmachen mußte, hat später immer erzählt, daß auch schon 13- und 14-jährige dabei waren. So hatte er ständig Angst, daß auch ich mitgenommen würde. In meiner vorangegangenen Schilderung aus Oliva, habe ich doch erwähnt, wenn sowjetische Soldaten zu mir schon sagten, du Gitler, zog ich mich zurück. Und die Schilderungen aus der Zeit der polnischen Staatsmacht nach dem Sommer 1945 drücken ja das gleiche aus. - Hier seien die Schilderungen von unserem Freund Olter hervorzuheben ! Und ich werde dazu auch noch weiter schreiben. Am 1. Mai 1945 konnten wir erstmals wieder in unserem Einfamilienhaus in der Praustfelder Siedlung übernachten. Aber bis wir unser Schlafzimmer wieder einigermaßen sauber hatten war vorher einiges an Reinigungsarbeit erforderlich. Einige Häuser der Siedlung waren als Lazarett der Sowjetarmee eingerichtet. Es standen Bett an Bett im ganzen Haus, Zusammengetragen von wer weis woher. Zerrissene Leinentücher als Verbände der Verwundeten. Einige waren verunreinigt zurückgelassen worden. Und jede Menge Bettfedern, als Rückstand aus aufgeschnittenen Federbetten. Die roten Inletts wurden als Hülle zur Beerdigung der Sowjetsoldaten verwendet. Rot als Farbe des Kommunismus. Der 1. Mai, war für mich die erste Nacht, in der ich meine Tageskoddern auszog. Aber unsere Freude endlich wieder in den eigenen vier Wänden zu übernachten, dauerte nicht lange. Spät am Abend zug ein feiernder Trupp Sowjetsoldaten in unsere große Wohnküche. Sie feierten den ersten Mai und wohl auch ihren absehbaren Endsieg. Zieharmonikamusik, Wodkarausch, Tanzgetrampel auf unserem Holzfußboden in der Küche, hielten uns wach. Es waren auch weibliche Soldaten dabei. Sie hatten uns schon beäugt. Ich selbst war sehr müde und eingeschlafen. Plötzlich nach Mitternacht sprangen meine Mutter mit meinen beiden achtjährigen Schwesten, Tante Erna mit Sohn Heinz, aus dem Fenster im Erdgeschoß. Die Horde war mit Gebrüll und total betrunken ins Schlafzimmer hereingestürmt. An mir hatten sie kein Interesse und so sprang ich im Hemd hinterher. An der Gartenpforte wurde ich von einem Wachposten mit stoi, mit vorgehaltener MP gestoppt. Ah Malinki und ich war gerettet, ich durfte fortlaufen in die dunkle Nacht. Natürlich lief ich querfeldein zu Großvaters Haus. Auf dem Hof angekommen, wurde aus dem Klo-Häuschen neben dem Stall, schon nach mir gerufen. Dort drin standen Mutti und Tante mit 3 Kindern. Ich kroch dazu und erst nach mindestens einer Stunde verließen wir unser Versteck. Danach sind wir in Großvaters haus gegangen und blieben in dieser Nacht von weiteren Belästigungen verschont.

Bevor wir aus Oliva nach Praust zurück kommen konten, hatte sich bei der Familie Neumann im Pfarrlandweg ein Gewaltdrama mit einem sowjetischen Offizier abgespielt. Wir kannten die Familie des Eisenbahners Neumann. Im gleichen Hause im Dachgeschoss wohnte das alte Ehepaar Geffe. Dort kam es zur Erschießung des Eisenbahners Neumann, der sich vor seine schwangere Tochter stellte, damit sie nicht vergewaltigt werde. Er wurde von dem Vergewaltiger erschossen. In seinem Garten wurde er, von Ernst Lisius, (früher Praust, Werderstr. 11) beerdigt. Das Grab in seinem Garten haben wir besucht. Unser täglicher Kampf ums überleben hat uns in Aktion gehalten. So entdeckte ich nach dem Abzug einer sowjetischen Militärabteilung zwei freilaufende, am Feldrain fiedlich grasende Ziegen. Flüchtende Bauern hatten Haustiere frei gelassen. Das Militär hatte sie genutzt und oft auch wieder zurückgelassen, weil sie ja genug Beute auch Überfluß hatten. Alles war frei und verlassen und ich nahm beide Ziegen, eine weiße mit Hörner und eine hornlose braune mit. Ich konnte sie mit Futter locken, das ja nun überall frisch wuchs. Unbemerkt von anderen Truppenteilen, die noch vereinzelt in den Häusern lagerten, konnte ich meine wertvollen Schätze in Großvaters Stall bringen. Großvater Franz Völz hatte früher immer zwei Ziegen und zwei Schweine. Mit solchem Viehzeug kannte ich mich aus.
Meine Großeltern und meine Mutter entschieden, daß die weisse Ziege zu schlachten sei, da sie keine Milch gab. Wer etwas davon versteht, weiß das sie neu trächtig werden mußte. Also mußte geschlachtet werden. Die braune hornlose gab Milch. Oma und Mutti konnten ja melken. Großvater war schon sehr krank und schwach. Ich hatte als größtes Tier Hühner und Kaninchen geschlachtet und sollte nun unter seiner Anleitung die Ziege schlachten. In den Kriegsjahren wurde auf Großvaters Hof jedes Jahr ein Schwein geschlachtet und ich habe trotz Verbot immer heimlich zugeschaut. Vom flach geneigten Dach, einer den Hof seitlich begrenzenden Remise, habe ich auf dem Bauch liegend die Vorgänge beobachtet. Nun mußte ich als 13-järiger selber ein Tier schlachten, dem ich eigentlich kräftemäßig, noch nicht recht gewachsen war. Opa gab Anweisungen, die Ziege am Hinterlauf anleinen, er wollte sie an den Hörnern halten, während ich mit einem kleineren Vorschlaghammer das Tier durch einen Schlag vor den Kopf zu beteuben hatte. Allen Mut zusammenfassend und in Anbetracht der Versorgung mit Nahrung, gelang mir der Schlag. Die Ziege fiel und Opa lag auf ihr, aber sie zappelte und ich hatte Mühe sie zu schlachten.- Was man nicht alles mit 13 Jahren tun mußte, um sich selbst und die Familie zu versorgen. Das Fleisch wurde in einer Essig-Kräuter-Mischung eingelegt, hat sehr gut geschmeckt und uns alle einige Zeit versorgt. An allen Tagen gingen wir, mein zehnjäriger Vetter Heinz Lau und ich weiter auf Nahrungssuche. Am Flugplatz fanden wir in einer zerstörten Baracke ein dickes Paket, mindestens 5 kg schwer. Verpackt in Ölpapier als Stanioleinzelpotionen. Das war der Fund, Pilzsuppenpulver stand drauf und nun kamen wir mit Freude zurück. Alle Vorräte wurden aufgeteilt und versteckt. Bei weiteren Streifzügen zur alten Radaune, bei der Eisenbahnbrücke der Werksbahn zur Zuckerfabrik, hörten wir kurze Einzeldetonationen. Was war das ? Wir entdeckten sowjetische Soldaten, die mit Handgranaten fischten. Wir machten einen großen Bogen um stromabwärts von ihnen zu gelangen. Das Wasser war beinlängentief, aber doch noch kalt im Mai. Die durch die Sprengung verletzten Fische kamen nach oben zur Wasserfläche. Die Sprengstoffräuber nahmen die größeren Fische und wir weiter abwärts in Fließrichtung den Rest. Immer darauf achtend, daß ja der Abstand zu ihrem Aktionsfeld ausreichend groß war. Ungefährlich war es nicht. Einen Sack führten wir immer mit und so kamen wir wieder mit einer frischen Mahlzeit heim. - Ein andermal. als ich allein war, entdeckte ich an dem Stau-Balkenwehr bei der Zuckerfabrik, unterhalb der Betonfläche, einen größeren schwarzen Schwarm kleiner Fische. Es waren junge Kaulbarsche, die mit den rauhen Schuppen. Für meinen Kartoffelsack suchte ich mir eine passenden Weidenrute, spannte sie zu einem Flitzebogen. wie wir sagten, der die Sacköffnung offen hielt. So sprang ich vom Ufer, meinen geöffneten Sack mitführend, in den Fischschwarm hinein und hatte Erfolg. Der untere Sackboden war gefüllt und ich hatte so einen großen Kochtopf mit Fischchen heimgebracht, deren Größe allerdings so um 6-7 cm Länge war. Oma hatte die richtige Idee daraus etwas zu machen. Die Fischchen wurden in Essigwasser kurz gegart, mit allem dran und drin. Sie scheckten zu Pellkartoffeln prima und wurden wie Sprotten gegessen. Übrigens die Kartoffeln hatten wir anfangs aus unserer Waschküche im Keller unseres Hauses. Dort war offensichtlich die Küche für das zuvor erwähnte Lazarett. Mindestens einen halben Meter hoch lagen dort die Kartoffelschalen, in denen wir noch Ess- und Pflanzkartoffel aussammeln konnten. Unser Gartenacker wurde von unserer Mutter gleich bestellt, die guten Schalen getrocknet und es gab noch einige Kartoffelmahlzeiten. Zubereitet mit Ziegenmilch in der wir die Pulchen zerdrückten und mit Schnittlauch würzten. Pulchen hießen bei uns die kleinen Pellkartoffeln.

Immer noch gab es in unserer Nähe in Häusern verschiedene rückwärtige sowjetische Militärabteilungen. So z.B. Anfangs auf einem Acker am Ostrand des Ortes Praust, ein Platz zur Beladung von Stalinorgeln. Wir konten aus dem Versteck sehen, wie die Raketenartigen Geschossen in die Winkelrahmen der Abschuß- Rampen eingeschoben und verriegelt wurden. Mit dieser Ladung fuhren dann die Fahrzeuge irgenwo Richtung Weichsel in ihre Abschußstellungen und kamen später wieder zurück um erneut bestückt zu werden. Die Front stand damals noch vor Wotzlaff und Gottswalde. Es war jener Abschnitt, der durch das Wasser der Niederung überschwemmt war und am 8. Mai 1945 zum Restgebiet Schiewenhorst gehörte. (Siehe auch Frontkarte im Buch des Herrn Poralla, Unvergänglicher Schmerz) Auf meinen weiteren Streifzügen entdeckte ich am Himmel einen Schwarm Tauben. Einen Tag habe ich gebraucht, um herauszufinden wo sie ihren Schlag hatten. Bis es dunkel war, hatte ich den Zugang gefunden. Es war irgenwo in der Werderstraße. Ein verlassener, teilweise zerstörter Hof. Es war niemand da. Ich schloß den Schlag und hatte eine Beute von ca. 5 Tauben im Sack. Gebraten haben sie herrlich gemundet. So schlugen wir uns durch. - In der Zuckerfabrik fand ich in einem zerstörten flachen Anbau einen Marmeladeneimer ca. halb gefüllt mit klarem hellen Sirup. - Am 8. Mai gab es bei den Siegern wieder ein Saufgelage. Viele sto (hundert) Gramm Alkohol, mit Wassernachspülung wurden getrunken und dann der Kopf gehalten. Woina kapuut, Woina kapuut wurde immer wieder geschrien. - Wir waren auch froh, daß der Krieg ein Ende hatte, nur unsere Lage wurde nicht einfacher.

Quelle: Erwin Völz, Danzig-L